Und was für ein Leben fährst du?
Das Leben mancher Leute ist ein schicker 7er BMW. Diese Menschen gleiten hinter das Steuer, geben Gas und alles läuft wie geschmiert.
Mein Leben ist eher so ein Opel Kadett, Baujahr 1983, mit Rost und der ein oder anderen Beule.
War ganz okay, als er noch gefahren ist, aber seit einiger Zeit hat er einen Motorschaden. Ich sitze nicht gemütlich hinterm Steuer, sondern bin hinten am Schieben.
Und wenn ich meine, jetzt kommt das Gefährt endlich wieder ein bisschen ins Rollen, geht plötzlich fast gar nichts mehr.
Könnte mal jemand dem Schicksal, diesem Scherzkeks, sagen, die Handbremse zu lösen?
Danke.
Man sieht sich
Ozeangroß ist die Sehnsucht.
So war sie nicht von Anfang an. Erst kam die Neugier. Ein kleines Rinnsal, unbedeutend, aber hartnäckig.
Die Neugier gebar Fragen. Es gab viele davon, deine Antworten habe ich gehütet wie einen Schatz. Tue es immer noch, auch wenn ihr Glanz längst den Sinn verloren hat.
Aus Neugier wurde Zuneigung, ganz unbemerkt zunächst. Erst das Drücken der Sehnsucht rief sie mir ins Bewusstsein. Unentwegt, erbarmungslos.
Ich wollte dir davon erzählen, habe es nicht geschafft. Das war gut so, denn du hast zum Abschied gesagt: „Man sieht sich.“
Unverbindliche Worte vertragen sich nicht mit verbindlichen Gefühlen. Ozeangroß.
Kater Henry
Henry ist ein prächtiger Kater. Einer von der Sorte, die Dachpfannen zertreten. So sagt man zumindest in gewissen Gegenden. Beweise diesbezüglich blieben bislang säumig. Aber über die Qualität seines Gemütes gibt es keine Diskussionen. Henry liebt Kinder. Mit jeder Faser seines rotbepelzten Körpers.
Die Vierjährige nimmt ihn hoch, umfasst ihn unter den Vorderbeinen, hält ihn wie eine Puppe vor ihrem Bauch. Henry zwinkert schläfrig mit den Augen. Sein Körper ist langgezogen, die Hinterbeine berühren fast den Boden. Er hält ganz still. Freudestrahlend kommt das Mädchen auf mich zu, will mir ihren Freund zeigen und stellt ihn vor: „Das ist Hängi!“
Was gibt es zu Essen?
Das Kind, verträumt und selbstvergessen, kommt aus der Schule und setzt sich an den Tisch. Das Essen wird serviert. Dampf kräuselt sich empor.
Das Kind schaut auf seinen Teller, runzelt die Stirn.
„Was ist das?“ Die Augenbrauen wandern nach oben, der Blick ist wachsam.
„Geschnetzeltes mit Reis und Gemüse.“
Das Kind schnuppert vorsichtig. „Hatten wir das schon einmal?“
„Ja, mehrmals.“ Die Mutter unterdrückt ein Seufzen.
„Und, hat es mir da geschmeckt?“
„Ja, sehr gut sogar.“
„Na, dann …“ Das Kind lächelt und isst mit großem Appetit.
Wie gut, dass das Kind weiß, niemals von der Mutter belogen zu werden …
Frei sein!
Das 10-jährige Mädchen kommt aus der Schule heim.
„Jens hat mich schon wieder beleidigt“, informiert sie ihre Mutter. Die Wut über dieses Unrecht steht der Tochter ins Gesicht geschrieben.
„Was hat er denn diesmal gesagt?“, fragt die Mutter.
„Dass ich lesbisch bin!“ Das Mädchen verzieht das Gesicht. „Was bedeutet das überhaupt?“
Die Mutter erklärt es ihr. Die Stirn des Kindes glättet sich. Ein Lächeln breitet sich aus.
„Aber das ist doch überhaupt nichts Schlimmes! Dann hat Jens mich ja gar nicht beleidigt. Schließlich ist es doch möglich, dass ich später einmal lesbisch werde. Das weiß ich doch jetzt noch nicht!“
Phoenix (Dienstag, 18 Februar 2014 23:54)
Tolle Sichtweise von dem Mädchen.
schuster-claudia (Mittwoch, 19 Februar 2014 08:21)
Was ich besonders schön finde, der Text ist nicht Wunschdenken meinerseits. Dieses Gespräch hat tatsächlich so stattgefunden. :-)
Sensor versagt
Jede Mutter weiß, Kinder sind laut.
Verbal - sie plappern, singen, krähen.
Und motorisch - sie klappern, scheppern, schlagen.
Das nennt man Spielen.
Ein gewisser Lärmpegel – ca. unterhalb der Dezibelzahl einer Kreissäge – ist normal.
Unnormal ist es, wenn Kinder ruhig sind, gefährlich sogar, wenn man sie gar nicht mehr hört.
Deshalb hat mich der Geräuschpegel meines Sohnes nicht beunruhigt. Erst nach einer ganzen Weile separierte mein Gehirn die empfangenen Laute und ich vernahm:
„Mama! Hilfe, Mama hilf mir!“ Immer wieder, wie ein Mantra.
Die im Videorekorderschlitz feststeckende Kinderhand konnte mit Kraft befreit werden. Kind und Gerät funktionierten auch weiterhin problemlos.
Gerti (Samstag, 15 Oktober 2016 15:19)
So hab ich das auch erlebt, immer wenn es sehr ruhig ist, stellen sie was an. Mir gefallen Deine Drabbles
Claudia Schuster (Mittwoch, 09 November 2016 12:12)
Danke, liebe Gerti! Freut mich, dass du die Drabbles magst. Sie sind für mich etwas Besonderes, weil man sich beim Schreiben wirklich sehr reduzieren muss. Manche Gedanken sind doch recht
schlüpfrig
und wollen sich nicht so ohne weiteres in ein paar Silben zwingen lassen.
Zwangloser Advent
„Ich hasse Weihnachten!“
„Wieso?“
„Ist doch alles nur Stress!“
„Was meinst du?“
„Das fängt im November schon an: Plätzchen backen, Fenster putzen, dekorieren, Lichterketten anbringen, Geschenke besorgen, verpacken, zum Frisör gehen…“
„Hör schon auf, ich hab‘s verstanden! Aber warum machst du den ganzen Zirkus?“
„Man kann nicht entkommen.“
„Wer zwingt dich?“
„Äh, niemand, aber das wird erwartet.“
„Von wem denn?“
„Na, von den Leuten!“
„Wer sind die Leute?“
„Alle.“
„Aber weißt denn du nicht, dass du die Wahl hast?“
„Doch, aber ich will niemanden enttäuschen.“
„Das ist Teil der Freiheit. Entscheide dich und lebe damit. Aber tue es ohne Groll.“
Kindermund
„Und, was habt ihr heute gemacht, du und der Opa?“
„Wir sind am Bach gewesen und haben Steine reingeschmissen. Ganz große!“
Die Kinderaugen leuchten, als hätten sie die Sonne eingefangen, die das Wasser reflektierte.
„Das ist ja großartig! Habt ihr noch was gemacht?“
„Ja, Opa hat Quetschen“, er stolpert über das noch schwierige Wort, „vom Baum gepflückt. Die haben gut geschmeckt.“
Die Mutter nickt anerkennend.
„Und dann hat Opa in die Wiese geschissen.“
„Was hat Opa?!?“
„Na, mit dem Ball in die Wiese geschissen.“
„Geschossen heißt das, mein Schatz!“, lacht die Mutter und drückt ihren kleinen Sohn fest an sich.
Noch nicht
Er lag auf der Seite, die rechte Wange ins Kissen gedrückt.
Die Lippen waren geöffnet, sie konnte seinen Atem hören.
Speichel hatte sich im Mundwinkel gesammelt, glänzte im Mondlicht, das durch die Fenster fiel.
Die Stirn war glatt, sein Zorn war verschwunden, das Gesicht keine verzerrte Fratze mehr.
Langsam hob sie die Arme, krallte ihre Hände um den Stiel des klobigen Hammers.
Sie fixierte seine Schläfe. Eine sehr empfindliche Stelle.
Mit der Zunge tastete sie nach ihrer aufgeplatzten Lippe, schmeckte Blut, spürte den Schmerz.
Sie zitterte, trat vom Bett zurück.
Nicht heute. Das nächste Mal. Dann würde sie es tun.
Anders
„Ich mag dich.“
„Warum?“
„Du bist anders.“
„Und das ist gut?“
„Ja. Ich bin auch anders. Aber anders anders als du.“
„Klingt kompliziert.“
„Das ist es vielleicht auch. Wenn jemand anders ist, bedeutet das nicht, dass er automatisch Toleranz besitzt für die Andersartigkeit des Anderen.“
„Du bist nicht ich, aber trotzdem anders als alle anderen? Meinst du das?“
„Ja, so in etwa. Und was sagst du dazu?“
„Ich bin froh, dass ich nicht so bin wie du, denn dann fände ich dich langweilig. Mich kenne ich ja schon. Aber du interessierst mich, weil du so bist wie du bist. Anders.“
Das Herz, das schreit
"Ich kann nicht ohne ihn leben!"
"Doch du kannst."
"Aber ich liebe ihn so sehr!"
"Du musst das Loslassen lernen. Du kannst ihn nicht festhalten, das erstickt deine Seele. Lass ihn frei!"
"Aber ich kann nicht!"
"Du musst." Er ist längst nicht mehr da.
"Aber was bleibt dann noch?"
"Die Liebe, sie bleibt. Für immer."
"Wir hatten nur so wenig Zeit miteinander. Das ist nicht fair!"
"Die Zeit war begrenzt, aber die Liebe ist es nicht! Deine Liebe zu ihm ist unendlich!"
"Es tut trotzdem so entsetzlich weh…"
"Ich weiß."
Er war doch dein Sohn, noch kein Jahr alt. Tot.
T-Shirt-Botschaften
„Der Mensch ist ein Herdentier und auf Kommunikation ausgerichtet.“
„Manchmal wird auch zu viel geredet.“
„Stimmt, sogar nonverbal.“
„Was meinst du damit?“
„Ich spreche von den T-Shirt-Botschaften.“
„Ach, die meisten sind doch ganz witzig, wie das von dem stämmigen Typen neulich: Sixpack im Speckmantel.“
„Ja, der hatte Humor. Sich selbst auf den Arm zu nehmen ist immer noch eine der schwierigsten Turnübungen. Aber was ist mit den unterschwelligen Botschaften? Was will uns diese aufgetakelte Frau dort drüben sagen, über deren Doppel-D-Busen sich Bambi spannt?“
„Vielleicht: Ich bin niedlich?“
„Wohl eher: Ich bin mindestens fünfzig Jahre zu alt für das Shirt!“
Schreiben ist leicht.
Man muss nur die falschen Wörter weglassen.
Mark Twain
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Bianca Becker (Freitag, 18 August 2017 12:23)
Man nennt es wohl Schicksal, wenn man sich über deine Worte Gedanken macht und zu dem Entschluss kommt, dass das eigene Auto recht passend ist.
Mein Fiesta, Baujahr 2010, ist bisher ziemlich zuverlässig. Kleinere Reparaturen, Verschleißerscheinungen, aber noch nichts, das man nicht beheben konnte.
Ganz sicher ist er nicht das schickst, das teuerste, oder gar komfortabelste Auto, aber ich hätte es deutlich schlechter treffen können.
Man wünscht sich wohl immer mehr, aber im Endeffekt ist auch der Fahrer des schicksten Wagens nicht unbedingt glücklicher.
Mir hilft es sehr zu wissen, dass ich im Fall der Fälle nicht alleine schieben muss.
Gerti Steenwerth (Freitag, 18 August 2017 16:03)
Oft sieht es nur aus, als würde es bei anderen wie geschmiert laufen, das Leben, sowie das Auto. Manchmal ist ein stotternder Kadett sogar besser, denn man weiß, dass er seine Mucken hat und stellt sich darauf ein. Sicher wünscht man sich öfter mal, dass man auch so ein "geschmiertes" Leben hat, aber das Leben ist - doofer Spruch - kein Wunschkonzert. Manchmal ist es hart, das zu lernen. Aber sicher findet man, bei genauem hinschauen, das eine oder andere lebenswerte und schöne.