Der „ideale“ Leser
Die Suche nach dem idealen Leser ist ein Gedankenspiel, eine Hirnakrobatik der abstrakten Art, wie sie, insbesondere burlesk betrieben, der Erbauung des Suchenden dient. Dies sei erklärend vorausgeschickt, denn es liegt mir fern, jemanden zu kränken.
Zuvorderst stellt sich die Frage: Was ist ein Ideal? Der Inbegriff der Vollkommenheit, wie der Duden tituliert.
Ein gigantisch großes Wesen also, schließlich muss es Platz bieten für zahllose Facetten, die man ihm ansteckt, die es zu tragen hat. Es schleppt schwer an den vielen Eigenschaften, darf trotzdem den Rücken nicht beugen. Stärke wird erwartet, breite Schultern, aufrechter Gang. Gerade deswegen wirkt das Ideal in seiner Größe und Übermächtigkeit einschüchternd. Meine Suche danach hat es mir deutlich gezeigt. So mancher hat Angst vor ihm, begibt sich in Verteidigungsstellung, wird aggressiv und greift an. Die Vormachtstellung wird torpediert, in Zweifel gezogen, dabei hat das Ideal nicht vor zu unterdrücken. Es hat sich seine Rolle nicht ausgesucht. Das Ideal ist Metaphysik, unstofflich, ist nicht existent und doch so virulent. Vom Lebenden nie erreicht, vielleicht nicht einmal erwünscht, mag es trotzdem eine Orientierung bieten. Das Ideal ist kein maßgeschneidertes Kleid. Egal wer es sich überstülpt – es wird ihm nicht passen.
Finden kann nur jener, der auch weiß, was er sucht. Somit ist die Frage legitim: Was ist ein Leser? Ab wann wird ein Mensch zum Leser? Sobald er diese Fertigkeit in der Schule erlernt hat und sich dem Gestrüpp der Buchstaben erwehren kann? Das mag dem „was“ genügen, doch es reicht nicht für die Bestimmung des „wer“. Wer ist ein Leser?
Die Stiftung lesen spricht von sechs Lesetypen. Die „Medien- und Leseabstinenten“ können bei der Suche nach dem idealen Leser gleich ausgeklammert werden. Erschreckende 33 Prozent der deutschen Bevölkerung zählen dazu. Bleiben noch die „Lesefreunde“, die „informationsaffinen Leser“, die „Vielmediennutzer“ und die „elektronikaffinen Mediennutzer“.
Begriffe, die in ihrem sperrigen Unklang die Sachlage nicht erhellen, deshalb möchte ich auf gebräuchlichere Bezeichnungen zurückgreifen.
Zu nennen ist der Gelegenheitsleser, dem ein Konsum von ein bis vier Büchern pro Monat zugeschrieben wird. Laut Stiftung lesen gehört er einer Spezies an, die großem Schwund ausgesetzt ist. In acht Jahren, die zwischen zwei Umfragen lagen, sank der Anteil des gelegentlichen Lesers von 31 auf 25 Prozent.
Die bedauernswerteste Kategorie ist der Zwangsleser. Vornehmlich in Schulklassen anzutreffen, dort genötigt, sich durch verordneten Lesestoff zu quälen. Der meist auch der einzige bleibt. Es versteht sich von selbst, dass in einer Gruppe, deren Benennung aus den Wörtern Zwang und lesen kombiniert ist, der ideale Leser nicht gefunden werden kann.
Dann gibt es noch den Berufsleser, der zwar einerseits gerne liest, aber es auch aus einer Notwendigkeit heraus tun muss. Ist der Druck, etwas zu erledigen, eine Voraussetzung für ein Ideal? Ein Ansatz, über den es nachzudenken lohnt. Verschiedenste Berufe fallen in diese Sparte. Lektoren natürlich, Literaturagenten, Buchhändler, Bibliothekare, Journalisten, Lehrer, Autoren. Alle, die ich nicht aufgeführt habe, mögen mir verzeihen.
Die liebste Gattung unter den Lesern sind mir selbstverständlich die Vielleser, die Süchtigen, die Maßlosen, für die ein Leben ohne Bücher keines wäre. Sie horten ihre Schätze in Massen, haben meist so viel Lesestoff zur Hand, dass es für zwei Leben reichen würde. Drei Prozent der deutschen Bevölkerung zählen zu dieser Kategorie. Mindestens fünfzig Bücher jährlich werden von ihnen gelesen. Schwindelerregende Grenzen nach oben bleiben selbstverständlich offen. Ist er in dieser Gruppe zu finden, der ideale Leser?
Wenden wir uns den Eigenschaften zu und warten noch mit einer Verifizierung.
Das wichtigste Merkmal des Ideals – ist es nun die Basis, auf der alles andere gegründet ist oder die Spitze, die ganz oben prangt und alles weithin überstrahlt? Egal auf welchem Platz des Gewandes das Wichtigste platziert wird, es ist die Freude am Lesen die ich meine. Sie ist die Urkraft, so selbstverständlich vorausgesetzt, dass man es beinahe für überflüssig halten möchte, sie zu erwähnen. Doch ich spreche sie lieber zweimal aus. Die Freude am Lesen. Sie schürt die pure Lust und ist Hingabe, die in Sehnsucht entbrennt, wenn man einen zu langen Zeitraum das Lesen missen muss. Hand in Hand mit der Freude gehen die Erwartung und die Neugier. Sie alle sind Triebfeder für Leser ein Buch aufzuschlagen, respektive den E-Reader einzuschalten. Wissbegier impliziert Toleranz und Aufgeschlossenheit Neuem gegenüber, das Verlangen danach, andere Lebenswelten, Gedanken und Erfahrungen kennenzulernen.
Für manche Bücher braucht der Leser auch Geduld und Ausdauer. Nicht immer erschließen sich Tiefe und Botschaft eines Textes sofort. Die Bereitschaft, die eigenen Gedanken die Richtung wechseln zu lassen, kann von elementarer Bedeutung sein. Man läuft dabei Gefahr, eine bestehende Meinung revidieren zu müssen, Gewohnheiten und Handlungsweisen zu überdenken. So gesehen verlangt das Lesen ebenfalls ein gerüttelt Maß an Mut. Man muss mit Überraschungen rechnen. Ob diese sich positiv oder negativ auswirken, entscheidet der Einzelfall.
Die Wirkung, die ein Buch auf den Leser hat, ist nicht immer vorhersehbar. Text und Leser gehen eine Symbiose ein. Die Intentionen des Autors treffen auf die Geistesleinwand, die der Leser bereits in unterschiedlichem und in jedem Fall höchst individuellem Maße gestaltet hat. Deshalb ist es auch so schwierig, eine objektive Allgemeingültigkeit in Bezug auf die Qualität eines Textes abzugeben. Es wird stets eine Annäherung bleiben und mit subjektiven Partitionen behaftet sein, die von Urteilendem zu Urteilendem durchaus disjunkt geprägt sein können.
Gleichwohl ist der ideale Leser auch jener, der Ansprüche an das Konglomerat aus Kunst und Handwerk anmeldet. Der auf Qualität achtet in Bezug auf Sprache, Stil, Grammatik und Plotlogik. Kein Autor, dem daran gelegen ist, Stolz auf sein Werk zu empfinden, kann sich einen gleichgültigen, wie ein Müllschlucker alles verzehrenden Leser wünschen.
Das Ideal des Lesers liegt auch im Auge des Betrachters. Nicht jeder hat Interesse an denselben Eigenschaften. Als Beispiel möge der Handel dienen. Kommerziell betrachtet ist jener Leser ideal, der vor allem viel kauft. Ob er dann tatsächlich auch alles liest, steht auf einem völlig anderen Blatt.
Ein Leser, der nicht nur konsumiert, sondern sein Erleben mit anderen teilt, sich bespricht und austauscht, ist ein Glücksfall für die Autoren, sofern das Buch gefallen hat. Bei einem Verriss ist die Sachlage natürlich eine ganz andere. Hierbei bewahrt er womöglich andere Leser vor einer Enttäuschung oder macht gerade deshalb neugierig auf das von ihm besprochene Buch.
Der ideale Leser geht aufgeschlossen und dennoch nicht vorbehaltlos an die Lektüre heran. Er ist bereit, das Gelesene zu überprüfen, recherchiert Details, mäandert in Gedanken und Taten in andere Bereiche, sei es, dass sich aus der Lektüre weitere Leseanregungen ergeben haben, ein Sachthema näher durchleuchtet wird oder man dem Hinweis auf ein Musikstück folgt, um sich so den Text noch tiefer zu erschließen.
Lesen soll eine Leidenschaft sein, die jede Faser des Lesenden in Anspruch nimmt. Der ideale Leser ist bereit, sich fallen zu lassen, einzutauchen in die Tiefen der Buchstabenozeane, die sich vor ihm ausbreiten. Das Meer der Worte kann sanft zu ihm sein oder seine ganzen Kräfte abverlangen. Der Leser kann sich treiben lassen, zügig durch die Sätze pflügen, mitunter verschluckt er sich an den ihn umspülenden Wortmassen. Davon lässt er sich nicht beirren. Er fühlt sich wohl in diesem Element.
Der ideale Leser hat keine Angst davor, Emotionen zuzulassen. Er weint vor Rührung ebenso, wie er Zorn zulässt, wenn sich das Schicksal des Protagonisten wie eine Feuerlanze in seinen Leib brennt. Der Leser ist bereit, die Existenz der Charaktere im Buch als real anzunehmen, er gesteht ihnen Dreidimensionalität zu, weshalb er trotz aller Fiktionalität die Aufrichtigkeit des Autors erwartet.
Der ideale Leser bewahrt sich einen klaren Blick, der ihm dabei hilft, auch die Bücher seines Lieblingsautors jedes Mal aufs Neue auf den Prüfstand zu stellen. Er verehrt manche Schriftsteller ohne zu vergessen, dass auch sie nur Menschen sind und keine Halbgötter.
Der ideale Leser wählt seine Lektüre sorgfältig. Falsche Erwartungen an ein Buch können den Lesegenuss völlig verleiden. Ebenso ist er sich der Tatsache bewusst, dass Lebens- und Lesezeit begrenzt ist, das Angebot an Lektüre in ihrer Masse der Biologie des menschlichen Körpers jedoch überlegen ist. Deshalb ist der ideale Leser auch ein gnadenloser Buchabbrecher. Wozu Zeit mit einem Buch vergeuden, das einen nicht fesselt? Es warten so viele andere darauf, gelesen zu werden.
Dünkel ist dem idealen Leser fremd. Er liest E- und U-Literatur gleichermaßen, konsumiert Mainstream ebenso wie versteckte Perlen aus Kleinverlagen. Maßstab ist der eigene Geschmack, die persönlichen Vorlieben und Interessen. Die sich gleichwohl jederzeit erweitern dürfen, nicht zuletzt durch die Aufgeschlossenheit, ein neues Genre zu testen.
Der ideale Leser verachtet Klappentexte, die zu viel von der Handlung verraten, ebenso jene, die nur aus kryptischer Lobhudelei bestehen.
Der ideale Leser zieht Befriedigung aus dem Lesen von Büchern. Er ist sich bewusst, dass Bücher sein Bewusstsein erweitern, ihm helfen, das Leben und seine eigene Existenz zu erklären und zu verorten. Trotzdem erwartet er keine Wunder oder allgemeingültige Wahrheiten, die aus den Seiten tröpfeln, gleichsam einer Essenz des Wissens. Nein, er ist sich im Klaren, dass das Gelesene lediglich Treibstoff ist für das eigene Denken, den es umzusetzen gilt.
Die Liste ließe sich noch um viele Eigenschaften erweitern, doch eines ist sicher:
Der ideale Leser denkt nicht darüber nach, ob er dem Ideal entspricht – er liest!
Schreiben ist leicht.
Man muss nur die falschen Wörter weglassen.
Mark Twain
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Robert Waloch (Donnerstag, 11 September 2014 14:19)
Der ideale Leser kann mitreißend über ein Buch sprechen, dass ihm gefallen hat.
Der ideale Leser vergisst seine Lieblinge nie. Er wird immer wieder für vergessene Autoren werben.
Der ideale Leser gibt sich als Bücherfreund zu erkennen, besucht Lesungen, liest Kritiken, schaut Büchersendungen.
Der ideale Leser spricht über Bücher. Er erleidet mit dem Autor, wenn dem mal ein Werk misslungen ist.
Der ideale Leser verschenkt seine Lieblingsbücher, bleibt beim Überreichen seines Geschenkes nicht stumm wie ein Fisch, sondern erzählt, warum ihn das Buch so liebt.
Jawohl, der ideale Leser liebt Bücher!
Ein gutes Buch verströmt einen Zauber, dem man sich nur schwer entziehen kann. Seine Gestalten wohnen bald fest im Kopf des Lesers; sie haben dort ein warmes Plätzchen gefunden. Es gibt Autoren, die schreiben über die Zeit hinaus.
Stellt sich aber auch die Frage, was hätte der ideale Leser im Mai 1933, während der Bücherverbrennungen gemacht? Wenn ich Gay Montag wäre (Fahrenheit451), welches Buch hätte ich wohl auswendig gelernt?
Manchmal stehe ich in einer Ausstellung vor einem Bild und meine Gedanken schweifen unwillkürlich zu Patrik Whites Maler. Ich sehe dann Mumma, die kleine bucklige Rhoda und natürlich Hurtle, den Maler. Ich träume. Ich bin sicher kein idealer, aber ein glücklicher Leser.
Jede Reise hat einmal ein Ende - aber ein gutes Buch kann man immer wieder lesen. Das ist dem idealen Leser bewusst.
Den idealen Leser gibt es wohl nicht – aber zu versuchen Einer zu werden macht wahnsinnig Spaß!
Robert Waloch