Metamorphose
Es ist bald wieder so weit. Ich spüre das Kribbeln auf der Haut, das immer auf dem Kopf anfängt. Zuerst fällt es kaum auf, aber es wird täglich stärker. Ich ertappe mich dabei, wie ich ständig in meine Haare greife und an ihnen ziehe. Außer dass meine Frisur durcheinander gerät und die Haare schneller fettig werden, bringt das nichts. Das ziepende Gefühl werde ich dadurch nicht los. Es hat sich schon weiter ausgebreitet. Über die Schultern, den Brustkorb bis mittlerweile zum Bauch. Die Zellen bereiten sich vor. Auf die Metamorphose.
Ich überlege kurz und rechne nach. Drei Jahre und etwa 60 Tage sind seit der letzten Umwandlung vergangen. Ziemlich lange diesmal. Was das wohl zu bedeuten hat? Dabei dachte ich damals, nach dem ersten Blick in den Spiegel, keine drei Wochen in der neuen Gestalt auszuhalten, ohne verrückt zu werden. Natürlich bin ich nicht verrückt geworden, zumindest nicht verrückter, als ich auch schon vorher war. Was ohnehin schon reicht, würde mein Bruder sagen. Na, der muss es ja wissen! Wenn es einen Experten aus Erfahrung auf diesem Gebiet gibt, dann ihn! Erst letzte Woche hat er sich die Nase tätowieren lassen! Die Nase! Ein ganz entzückendes Rautenmuster, wie seine durchgeknallte Freundin gesäuselt hat. Manometer! An der Stelle meines Bruders wüsste ich nicht, was mir peinlicher wäre: diese verunstaltete Nase oder die Freundin.
Na, egal, jetzt habe ich erstmal genug mit mir selbst zu tun. Mir bleiben nur noch ein paar Tage, fünf höchstens, würde ich mal schätzen, so schnell wie sich das Kribbeln ausbreitet. Dann heißt es wieder ab in die Kiste. Ich hoffe ja sehr, dass das neue Metamorphose-Gel wirklich so gut ist, wie alle erzählen. Die Umwandlung der Zellstrukturen soll schneller vonstatten gehen. Wow! Habe ich das gerade wirklich gedacht? Vonstatten gehen? Das hört sich ja richtig versnobt an! Ich muss grinsen. Seit ich so fleißig die Bücher von Jebhen lese, passiert mir das öfter. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch richtig gebildet. Jebhen, mmmh, ich verfalle gleich ins Träumen, wenn ich nur an seinen Namen denke. Was für ein Mann!
Dabei würde ich mich am liebsten selber belügen und so tun, als wäre er mir schnuppe. Und bin ärgerlich auf mich selbst, dass es nicht so ist. Eigentlich ist Jebhen ein Ekelpaket! Ja, genau! Eingebildet und arrogant, ein emotionaler Holzklotz! Und so unsagbar interessant, scheiße! Vielleicht wandelt sich diesmal nicht nur meine äußere Körperhülle um, sondern auch noch gleich mein Hirn, dann komme ich endlich von dem Typen weg. Wenn ich ihn sehe, wird mir ganz flau im Magen, ich werde nervös, manchmal habe ich in seiner Gegenwart sogar ein bisschen gestottert. Meine Güte wie peinlich! Und wofür? Um mich wieder blöd anmachen zu lassen von ihm. Ich bin nett zu ihm und er schnauzt mich an.
Es war kurz nach meiner letzten Metamorphose, als ich Jebhen kennengelernt habe. Naja, kennengelernt ist zu viel gesagt. Ich habe ihn umgeworfen. Natürlich ohne Absicht. Ich war mit den Ausmaßen meines neuen Körpers noch nicht vertraut. Die unberechenbare Laune der Metamorphose hatte mir einen kammartigen Knochenhöcker über die gesamte Länge der Wirbelsäule beschert. Kräftig und hart. Ich stand vor einem Regal im Supermarkt, holte mir eine Schachtel mit Müsli heraus und drehte mich ohne an etwas zu denken um. Jebhen war hinter mir gestanden, ich hatte ihn nicht bemerkt. Mein Knochenhöcker hatte ihn zur Seite gefegt, er stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel in einen hochaufgetürmten Stapel Dosenchips. Holterdiepolter! War das ein Krach und ein Durcheinander. Geradezu der Klassiker, wenn man vorgehabt hätte, eine Slapstickszene zu inszenieren. Und ich hätte beinahe gelacht. Ich war hinterher ehrlich froh, ernst geblieben zu sein. War schon schlimm genug, dass ein paar andere Kunden im Laden vor Heiterkeit die Bäuche hüpfen ließen. Einige der Chipsröhren platzten auf, ihr Inhalt verteilte sich recht malerisch auf den blassen Fußbodenfliesen. Der Farbton der Paprikachips und der von Jebhens Gesicht glich sich in etwa. Meine Güte, war der böse! Noch auf dem Boden liegend hat er begonnen zu schimpfen und zu fluchen.
Schreiben ist leicht.
Man muss nur die falschen Wörter weglassen.
Mark Twain
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