Jetzt geht's los - 11.10.2019

 

Claudia: Gördis ist vor über einem Jahr, genau am 28. August 2018 in mein Leben getreten. … Hm, hört sich recht theatralisch an. Obwohl ‚theatralisch‘ tatsächlich gut zu Gördis passt. Sie ist eine Diva. Ich weiß aber wirklich nicht so genau, wie ich beginnen soll. Eigentlich wollte ich gar nicht darüber berichten, aber Gördis liegt mir ausdauernd in den Ohren und … na ja … mich nervt das langsam. Und irgendwie denke ich auch, dass es vielleicht gut sein könnte, von Gördis zu erzählen, also sollte ich es tun. 

 

Gördis: Genaugenommen brauchst DU gar nichts schreiben, Schätzchen, ich kann das auch wirklich allein, aber du alte Wichtigtuerin lässt mich ja nicht machen.

 

Claudia: Gördis! Wir haben besprochen, dass ich den ersten Text schreibe.

 

Gördis: Ja, dann mach endlich mal! Komm in die Pötte.

 

Claudia: Boah, ihr seht, was ich meine, oder? Sie ist eine Nervensäge. Also gut, dann versuche ich das Ganze in Kurzform zu erledigen. Letztes Jahr habe ich ein neues Knie bekommen, wie tausende anderer Menschen auch, aber ich habe nicht irgendeine Prothese erhalten, nein, meine ist Gördis. Ich weiß, das hört sich total verrückt an und ich war auch komplett von der Rolle, als ich das gemerkt habe, aber so ist es nun mal. Zuerst dachte ich ja, das läge an den starken Schmerzmitteln, sind ja Opiate. Da liegt es durchaus nahe, dass man halluziniert oder so.

 

Gördis: Ich hab ja befürchtet, du hörst mich gar nicht mehr. Zwei Tage habe ich an dich rangeredet, bis dir endlich ein Licht aufgegangen ist. 

 

Claudia: Das ist ja auch einfach zu verrückt! Das habe ich noch nie von irgendjemandem gehört. Eine Knieprothese mit eigenem Bewusstsein. Falls es das wirklich öfter geben sollte, wundert es mich kein bisschen, wenn die anderen Betroffenen den Mund halten. Ich quatsch mich hier vermutlich noch in die Klapsmühle.

 

Gördis: Es gibt ja so wahnsinnig viele Kleingeister …

 

Claudia: Ich muss das etwas näher erklären. Ich ‚höre‘ Gördis quasi in meinem Kopf. Sie bildet sich ein, sie habe die gleichen Rechte über meinen Körper wie ich, aber das kann ich glücklicherweise größtenteils verhindern. Sonst würde ich tatsächlich Röcke und Blusen oder ähnlichen Plunder tragen.

 

Gördis: Plunder?! Du bist so was von das komplett andere Ende einer Stilikone, das ist kaum zum Aushalten. Deine Klamotten sind eine Zumutung. 

 

Claudia: Weißt du, was eine Zumutung ist? Dass ich inzwischen denke, rosa wäre eine hübsche Farbe. Du infiltrierst mich auf infame Weise. Ich mochte rosa noch nie. NIE! 

 

Gördis: Du bist so eine Pussy! Rosa ist doch kein politisches Statement. Man kann auch im rosa Kostüm Vorstandsvorsitzende eines Automobilkonzerns werden. Dass Frauen in unserer Gesellschaft sehr wenig in führenden Positionen arbeiten, liegt an den Rollenbildern, die sich in die Gehirne aller Menschen gefräst haben, aber ganz sicher nicht an einer Farbe. 

 

Claudia: Was kommst du jetzt mit dieser politischen Diskussion um die Ecke? Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ich Angst vor der Farbe rosa habe. Mir gefällt sie bloß nicht! Dass du mir hier unterstellst, so wenig souverän zu sein, ist die Höhe. 

 

Gördis:

 

Claudia: Typisch, wenn dir nichts mehr einfällt, schweigst du. Ist aber auch ganz gut, vielleicht komme ich jetzt endlich dazu, ein vernünftiges Intro zu schreiben. Obwohl sich Vernunft und eine sprechende Prothese ja völlig ausschließen. Aaaaaah! Das ist einfach alles zu bescheuert, aber was nützt es schon. Vereint mit Gördis bis zur Revision. Von der ich hoffe, dass ich sie nicht brauche, denn es war eine sehr schmerzhafte und unschöne Angelegenheit, ein künstliches Gelenk zu bekommen. 

 

Gördis: Du bist so gemein! Du weißt genau, dass ich bei dem Wort Revision Zustände kriege. Lass das doch einfach! Es wird keine Revision geben. Ich bin aus einer äußerst langlebigen Titanlegierung gemacht und glaub mir, ich werde deinen Knochen schon beibringen, sich vernünftig zu verhalten, damit ich mich nicht lockere. Ein Prothesenaustausch kommt nicht infrage, den wird es nicht geben. Basta!

 

Claudia: In der Hinsicht möchte ich deiner Selbstüberschätzung gerne glauben.

 

Gördis: Was du für Selbstüberschätzung hältst, ist einfach ein gesundes Selbstbewusstsein. Aber das fehlt dir ja. Schade, dass es dafür keine Prothese gibt.

 

Claudia: Ich bedauere es, dass du keinen Hals hast, denn ich würde dich ab und zu wirklich gerne erwürgen …