Heiligabend für Mirko
Er konnte sie nicht abhängen! Sie waren verdammt schnell. Nur einen kleinen Vorsprung hatte er rausgeschlagen, aber der musste reichen. Seine Beine schmerzten, er hatte Seitenstechen. Gleich würden sie um den Häuserblock kommen und ihn sehen, dann war alles vorbei. Weglaufen ging nicht, also musste er sich verstecken. Aber wo? Hier gab es nichts!
Eine Frau kam aus dem Wohnblock links vor ihm. Mit gesenktem Kopf lief sie über die grauen Gehwegplatten, nestelte an ihrem Schal, der sie vor dem beißenden Wind schützen sollte. Das war seine Chance! Die Haustür glitt gemächlich zu, noch dreißig Zentimeter und das Schloss würde einschnappen. Obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, rannte er noch schneller, quer über die Wiese, das braune Gras dämpfte seine Schritte. Er erwischte den Türgriff gerade noch so, quetschte sich durch und zog die Tür hinter sich zu. Sein Blick schnellte die Treppen hinauf. Nein, nicht gut, lieber in den Keller. Er flog geradezu über die Stufen, schwang sich um den Absatz herum, polterte gegen eine Tür und stand im Waschraum.
Die Arme auf die Oberschenkel gestützt blieb er stehen, vornübergebeugt und keuchte, hörte das Pfeifen seines Atems, das Rauschen des Blutes in seinen Adern. Viel zu laut kam ihm das alles vor. Hier war es still, niemand da, keine der Waschmaschinen lief. Die Neonröhren leuchteten den Raum unbarmherzig aus bis in den letzten Winkel. Staub, Spinnenweben und ein altersschwacher Stuhl hinten in der Ecke.
Das Adrenalin peitschte noch durch seine Adern, er zitterte am ganzen Körper. Ob vor Anstrengung oder Angst wusste er nicht zu sagen. Obwohl es ihm schwerfiel, sich ruhig zu verhalten, wusste er genau, dass er die nächsten Stunden hier zubringen musste. So leicht würden sie nicht aufgeben. Sie würden auf ihn warten, das war ihm klar. Er konnte nur hoffen, dass sie dumm genug waren und nicht in den Häusern nach ihm suchten. Sie würden es nicht dabei belassen, ihm sein Handy abzunehmen. Sie würden ihn verprügeln, als Entschädigung für ihre Mühen, die sie mit ihm gehabt hatten. Er hatte Hassan gesehen, als sie mit ihm fertig waren. Jetzt fehlte ihm ein Zahn und über der Augenbraue würde eine hässliche Narbe zurückbleiben.
***
„Wer bist du denn?“ Eine Stimme, hart wie ein Kieselstein, durchdringend wie die Kälte des Betonbodens, auf dem er zusammengesunken lag. Er hatte tatsächlich geschlafen! Wie lange, konnte er nicht sagen, erholt fühlte er sich nicht. Ihm war kalt. Eine weitere Bestandsaufnahme seiner Situation wurde durch die Stimme vereitelt.
„Sieh zu, dass du hier verschwindest!“ Die Frau hatte schmale Lippen, ihre Brauen waren zusammengezogen. Er kannte den Gesichtsausdruck. Keine Verhandlungen möglich, schnell das Weite suchen. Damit fuhr man mit solchen Leuten am besten. Er rappelte sich hoch, knickte jedoch ein, da sein Bein eingeschlafen war. Um nicht zu fallen, stütze er sich an der Wand ab.
„Warum bist du nicht zu Hause? Ist doch Heiligabend.“ Der Blick der Frau gefiel ihm gar nicht. Sie sah genau hin. Nicht wie die meisten Menschen, die wie durch Filter blickten, nur das sahen, was sie wollten. Was sollte er antworten? Er zuckte mit der Schulter.
„Ich möchte eine richtige Antwort, junger Mann. Oder kannst du nicht sprechen?“ Sie hatte schmale Schultern, verdeckt von einer unförmigen, braunen Strickjacke, aber in diesem Moment erschien sie ihm riesig. Er drückte sich an die Wand hinter ihm, als könnte sie ihm Stütze und Sicherheit bieten.
„Lass mich raten. Deine Eltern sind besoffen, haben sich gestritten und mit Gegenständen beworfen. Um nichts abzubekommen bist du abgehauen und weil es draußen zu kalt ist, hast du dich hier versteckt. Stimmt’s?“
Er räusperte sich. „So ungefähr.“ Sie lag wirklich nicht weit daneben. Sein Erzeuger war längst über alle Berge, aber seine Mutter hatte wieder so einen versifften Typen angeschleppt. Erst hatten sie gebechert, sich gestritten und lagen sich dann ganz weinerlich in den Armen. Was weiter kommen würde, wollte er ganz bestimmt nicht mit ansehen. Da war er lieber um die Häuser gezogen. Dumm wie er war hatte er nicht aufgepasst und war Kordo und seiner Gang in die Arme gelaufen. Mit seinem neuen Smartphone in der Hand. Das wollten sie haben. Er hatte es erst vor ein paar Tagen gekauft. Gebraucht. Ein neues konnte er sich nicht leisten. Und er hatte lange darauf gespart. In der Kneipe „Zum großen Onkel“ hatte er gejobbt. Kisten schleppen, Gläser spülen und so’n Zeug. Für fünf Euro die Stunde. Lange Maloche für das Handy. Es war das Wertvollste, was er besaß. Das würde er sich nicht so einfach wegnehmen lassen.
Die Frau musterte ihn. Und er sie. Endlich brach sie das Schweigen.
„Komm mit. Ich habe Brathühnchen gemacht. Kannst was abhaben. Mager wie du bist, verträgst du eine ordentliche Portion. Du darfst hinterher sogar rülpsen. Ich mag's nicht so tüdelig an Weihnachten.“
Mirko erfasste eine tiefe Heiterkeit. Ein Grinsen breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus. Erfasste die Mundwinkel, die Muskeln in den Wangen, erreichte seine Augen und glättete seine Stirn.
„Das trifft sich gut. Ich kann keine Weihnachtslieder.“
Schreiben ist leicht.
Man muss nur die falschen Wörter weglassen.
Mark Twain
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