Tag 2

 

Es blieb Marc Jansen erspart, seine Frau Carla selbst tot aufzufinden.

 

***

 

Marc fläzte sich auf das Hotelbett und riss eine Packung gesalzener Nüsse auf. Er warf sich eine Handvoll in den Mund und kaute langsam mit geschlossenen Augen. Wie er Erdnüsse liebte! Zu Hause wäre es einer Todsünde gleichgekommen, im Bett zu essen. Carla hatte es ihm zwar nicht verboten, aber er wusste, wie sehr sie Krümel im Bett hasste und deshalb verzichtete er darauf. Er setzte sich auf, um die Socken auszuziehen und den Fernseher einzuschalten.

„Mul-ti-me-di-a an“, quäkte eine geschlechtslose automatische Stimme als er auf die im Bett eingelassenen Tasten drückte. „Sie ha-ben sich für Fern-seh-en ent-schie-den, Ka-nal vier-zehn, Sport!“ Das Johlen und Klatschen einer begeisterten Basketballzuschauerschaft drang aus den Boxen des zwei mal zwei Meter großen Bildschirms. In Basketballmanier warf Marc seine zu Kugeln verknäuelten Socken in den Papierkorb. „Yes!“ freute er sich und begleitete seinen ‚sportlichen‘ Triumph mit einer entsprechenden Geste. „Wol-len Sie et-was trin-ken?“, fragte die Automatenstimme.

Etwas trinken? Er räusperte sich. „Ja“, sagte er zögernd. Er war ein freier Mann. Zumindest für die nächsten zwei Tage. „Ein Bier“, sagte er und sah dabei zu, wie sich in der Mitte des Nachttisches ein Loch bildete, aus dem eine schlanke Flasche auftauchte. Er nahm sie und hielt sie gegen das Licht der Nachttischlampe. Der Inhalt schimmerte golden. Für zwei Tage, dachte er, bin ich frei, so etwas zu tun. Eine Flasche Bier zu öffnen und sie im Bett zu trinken. Im Hause Jansen war Alkohol nämlich tabu. Prozente durfte nur der Essig haben.

Carla zuliebe. Als trockene Alkoholikern war sie immer gefährdet. Auch wenn sie schon seit mehr als sechs Jahren keinen Tropfen mehr angerührt hatte. Marc bohrte seine Zehen in die Bettdecke und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Als er sie wieder auf dem Nachttisch absetzte, rülpste er laut.

Bit-te wie-der-ho-len Sie Ih-ren Be-fehl!, meldete sich die Spracherkennung der Multimediaeinheit. Marc lachte.

„Das glaub ich dir gern, Süße! Frauen verstehen das nicht!“ Er hatte spontan beschlossen, dass die Automatenstimme weiblich war. „Kleine Dinge sind es, die Männerherzen höher schlagen lassen!“ Zufrieden schloss er die Augen. Das Kissen in seinem Nacken fühlte sich glatt und seidig an. Wie die Haut von Carla, dachte er. Wie die zarte Wölbung ihres Bauches. Carla.

Marc setzte sich auf. Er wollte ihre Stimme hören.

Als er schon das Uni-Sys aktiviert hatte, fiel ihm ein, dass heute Mittwoch war. Trainingstag. Dann später, dachte er. Wenn er vom gemeinsamen Abendessen mit den Kollegen wieder zurück war.

Er sah auf die Uhr. Schon so spät! Noch schnell unter die Dusche, dann musste er los. Er wollte seine Kollegen nicht warten lassen.

 

***

 

Marc schloss die Hoteltür hinter sich und fand nicht gleich den Lichtschalter. Na, vielleicht doch ein Bierchen zu viel?, hörte er Carlas Stimme in seinem Innern, hörte ihr leises Lachen, und meinte fast, ihre Hand auf seinem Arm zu spüren.

Carla. Er kniff die Augen zusammen und musste sich anstrengen, sein Uni-Sys richtig zu bedienen. Er würde sie jetzt anrufen. Doch noch ehe die Verbindung stand, drückte er auf den Aus-Knopf. Carla schlief längst. Es war viel zu spät! Sie lag im Bett, auf den Bauch gedreht, mit zur Seite geneigtem Kopf, so wie immer. Ihre Haare ausgebreitet als seidiger Fächer auf dem Kissen, ihr Mund ein kleines Bisschen geöffnet. Sie sah so süß aus wenn sie schlief. Marc hatte diese Bilder im Kopf, als er ins Bad ging. Er putzte sich die Zähne, summte vor sich hin. Zärtlichkeit erfüllte ihn. Sie war so wunderbar! Und wunderschön. Wenn er nach Hause kam, würde er sich Zeit nehmen für einen romantischen Abend. Kerzenschein, ein gutes Essen, Gespräche. Und er würde mit ihr flirten, mit seiner Frau, sich daran erfreuen, ihr Begehren zu wecken, es in ihren Augen zu sehen. Danach würden sie sich lieben. Lange, zärtlich und voller Leidenschaft.

Erfüllt von diesen schönen Gedanken ging er ins Bett und sank in einen alkoholweichen Schlaf.

 

***

 

Eins der Biere musste definitiv schlecht gewesen sein, hänselte sein innerer Moralapostel, als Marc am Morgen mit einem Brummschädel aufwachte. Der nicht besser wurde, als er versuchte, auf der falschen Seite aus dem Bett zu steigen und sein Kopf innige Kontaktaufnahme mit der Hotelzimmerwand suchte.

Als er sich im Bad auszog, um in die Dusche zu steigen, kullerte eine Nuss aus seiner Unterhose. Carla hätte ihn ausgelacht. Als er sich unter dem warmen Wasserstrahl einseifte, dachte er, dass es ganz gut war, eine Frau zu haben, die auf ihn aufpasste. So ein Junggesellenleben wäre auf Dauer doch recht anstrengend.

Gewaschen, angezogen und geläutert holte er seine Socken aus dem Abfalleimer und sammelte die Nüsse im Bett auf. Auch die Bierflasche entsorgte er und erst dann fühlte er sich gerüstet, Carla anzurufen.

„Komm, geh ran, Carla!“ ermunterte er das stoische Freizeichen, „Du bist noch zu Hause, es ist noch frühüh!“ Vielleicht war sie gerade in der Dusche, dachte Marc achselzuckend und ging zum Frühstück. Chemie für den Kopf – Tablette – und Natur für den Magen – Früchte. Nach dem üppigen Steak gestern Abend wollte Marc nicht mehr. Trotzdem war er spät dran, als er zu den Tagungsräumen hastete. Im Laufen versuchte er nochmals, Carla anzurufen, ohne Ergebnis.

Ebenso mittags, er konnte seine Frau einfach nicht erreichen. Der Kartoffelauflauf hätte ebenso gut aus Pappmaché bestehen können, Marc hätte es nicht gemerkt. Er fing an zu grübeln. Welcher Einheit würde sie heute wohl zugeteilt worden sein? Mit welchem ihrer Arbeitskollegen wäre sie im Team? Vielleicht sollte er Milo anrufen, aber er tat es dann doch nicht. Er kam sich etwas albern vor. Er benahm sich wie eine Glucke. Carla war erwachsen, sie würde sich schon melden, wenn es passte. Vielleicht war Estella wieder mal am Ausflippen und Carla kroch gerade durch irgendwelche Büsche um ausgebüxte Schoßhündchen zu suchen. Marc schob sich die restlichen Kartoffelscheiben in den Mund und merkte nicht, dass ihm ein Klecks Soße auf das blütenweiße Hemd tropfte.

 

***

 

Der Nachmittag zog sich hin und Marc ertappte sich immer öfter dabei, dass er in Gedanken abschweifte. Zu Carla. Es sah ihr nämlich nicht ähnlich, sich so lange nicht zu melden. Noch nicht einmal eine kleine schriftliche Mitteilung, für den Fall, dass sie nicht sprechen konnte. Marc wusste, von außen mochte seine Reaktion völlig übertrieben wirken, aber die schlimmen Zeiten lagen noch nicht lange genug zurück, als dass er sie vergessen hatte. Was wäre, wenn es Carla doch nicht so gut ging, wie er dachte? Wenn sie… er dachte das Undenkbare … Alkohol getrunken hatte? Vielleicht war er zu unachtsam gewesen, hatte die Zeichen übersehen… Er stahl sich aus dem Vortrag, murmelte Entschuldigungen, als er durch die Stuhlreihen schlüpfte und Leute anrempelte und suchte sich im Foyer einen ruhigen Ort.

Marc rief Carlas Arbeitskollegen, Freunde, Familie und Nachbarn an, doch keiner wusste etwas oder konnte ihm weiterhelfen. Keiner hatte sie gesehen und sie hatte sich auch bei niemandem gemeldet. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich und seine Sorge war nun zu echter Angst angewachsen.

Kurz dachte Marc daran, die Polizei zu informieren, doch es erschien ihm zu umständlich. Er wollte sofort Gewissheit haben, vielleicht lag Carla betrunken in der Wohnung, in ihrem Erbrochenen. Er hatte solche Bilder noch im Kopf. Jede Minute, so dachte er, zählte und Marc rief erneut Julia Hipps an, ihre Nachbarin und Freundin, die eine Zugangsberechtigung für ihre Wohnung besaß.

„Hi, Julia, ich bin‘s nochmal, Marc – Entschuldige … ich … ähm … ich kann Carla einfach nicht erreichen. Vielleicht ist es total albern, aber…“ Er räusperte sich kurz. „Würdest du mal kurz in die Wohnung rübergehen und nachsehen? Ich meine, es ist wahrscheinlich nichts, aber-“

„Kein Problem, Marc...“, unterbrach Julia und er atmete auf. Er hörte, wie sie etwas aufzog, wie etwas hin- und hergeschoben wurde. Dann ein Klappern. Ihre Schuhe auf dem Fliesenboden?

„Glück gehabt, dass du mich noch erwischt hast“, hörte er Julia plaudern, während er vor seinem inneren Auge sah, wie sie die Riemchen ihrer Sandalen schloss. „Ich wollte gerade einkaufen gehen. Ich finde das richtig süß“, fuhr sie fort, und der Hall in ihrer Stimme sagte ihm, dass sie schon auf dem Korridor war. „Ich wünschte, mein Freund wäre auch mal so besorgt, wenn ich mich einen Tag nicht melde…“

Aus irgendeinem Grund beruhigte ihn Julias Geplapper nicht.

„Wie ist denn die Tagung so?“, fragte Julia. Marc hörte ein leises Piepen, die Bestätigung, dass der Code aus ihrem Uni-Sys akzeptiert worden war. Die Identifikationseinheit würde jetzt ihre Gesichtsform abtasten, die knallroten Lippen. Die Tür öffnete sich, Marc erkannte das charakteristische Klacken. Na endlich!

„Das Übliche: viele Vorträge, jede Menge technische Neuheiten und am Abend ein Absacker“, antwortete Marc, „Nicht der Rede wert … bist du schon drin?“ Seine Stimme war eine Spur zu hoch. Er räusperte sich.

„Ja, ich stehe im Flur... Carla? Carla, bist du da?“ hörte er Julia rufen, und dann lauschte er mit ihr gemeinsam in die stille Wohnung hinein. Er drückte gegen seine Ohren, als könnte er damit die Leistung der implantierten Empfangseinheiten verstärken. „Sie antwortet nicht, ich gehe mal weiter, ja?“ sagte Julia jetzt.

Am anderen Ende der Leitung hörte Marc Jansen angestrengt auf die Geräusche und versuchte sich vorzustellen, wo Julia sich gerade befand. Er erkannte das Knarzen der Wohnzimmertür und hörte das Atmen von Julia, das plötzlich in ein Keuchen überging.

„Julia, was ist los?“ krächzte Marc und machte nicht mal mehr den Versuch, die Angst aus seiner Stimme zu vertreiben. „Oh, Scheiße, Scheiße! - Julia!“ – Lauter: „Was? Julia, was ist los!“

„Nein, sie…“ Julia brach ab, er hörte ein komisches Geräusch, hustete sie oder war es ein Räuspern? „ … sie ist nicht hier. Aber es sieht schrecklich aus. Hier liegt alles durcheinander.“ Sie flüsterte. Marc hörte ihre Angst. „Marc? – Das war ein Einbruch! Sie haben eingebrochen bei euch!“

Eigentlich wollte er ihr sagen, dass sie umdrehen und die Wohnung verlassen sollte. Dass sie die Polizei rufen musste. Doch er brachte kein Wort hervor. Stattdessen ballte er die Hände zu Fäusten und lauschte. Lauschte.

„Ich gehe jetzt in die Küche“, hörte er Julias Stimme. Marc hörte das Klappern ihrer Absätze auf dem Fliesenboden.

„Hier ist sie auch nicht“, informierte Julia, „aber …“

„Ja?“, sagte Marc. „Ja, was?“

„Auch hier sind die Schränke durchwühlt und Milch wurde verschüttet!“

Marc konnte sie in den Flur zurückkehren hören. „Ich gehe jetzt ins Schlafzimmer“, sagte Julia.

So konzentriert lauschte er in den Hörer, dass ihn die Wucht des Schreies wie eine Granatenexplosion bis ins Rückenmark traf.

 

Julia schrie. Sie schrie und schrie. Und das winzige Bisschen, das in Marcs Kopf noch gehofft hatte, starb.

 

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