Wünsche
Der Gehweg ist glatt. Die Menschen tippeln ungelenk vor sich hin, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Ich bin der Einzige, der mit ausgreifenden Schritten vorwärts geht. Ich weiß, dass ich nicht fallen werde. Trotz meiner glatten Sohlen. Denn ich habe mir gewünscht, nicht auf dem Eis zu stürzen. Ebenso wie ich mir gewünscht habe, in meinen dünnen Lederschuhen keine kalten Füße zu bekommen. Ich mag die dicken Winterstiefel nicht. Warum sollte ich sie auch anziehen? Es ist nicht notwendig.
Das mit dem Wünschen hat vor etwa drei Jahren begonnen. Erst hat es eine Weile gedauert, bis ich es begriffen hatte. Ich brauche mir nur etwas zu wünschen und dann bekomme ich es. Keine Ahnung, warum oder ob das irgendwann wieder vorbei ist. Die erste Zeit war wie ein Rausch. Was für Möglichkeiten! Allerdings gibt es auch Grenzen. Ich muss mir etwas wünschen, das mich oder meine unmittelbare Umgebung betrifft. Am Weltfrieden bin ich gescheitert. Globale Wünsche funktionieren nicht.
Mittlerweile ist die Euphorie verflogen. Dass sich alle meine Wünsche erfüllen, ist zur Alltäglichkeit geworden. Manchmal versuche ich, einen Tag ohne das Einsetzen meiner Gabe zu bestreiten. Das erfordert ständige Konzentration. Zu sehr ist mir das Wünschen schon in Fleisch und Blut übergegangen. Ich weiß, ich bin undankbar, aber mein größtes Problem ist die Langeweile. Sie hüllt mich ein. Mein Leben ist leicht und doch wiegt diese Leichtigkeit schwer.
Ich komme an einem Café vorbei. Durch die Fensterfront sehe ich eine Frau an einem Tisch sitzen. Sie liest in einem Buch. Ohne aufzusehen greift sie nach ihrer Tasse, hebt sie an und verharrt in der Luft. Ihre Augen nimmt sie keine Sekunde von den Buchseiten, scheint das Getränk in ihrer Hand vergessen zu haben. Reglos sitzt sie da. Ich beobachte sie, unbemerkt. Ihre Lippe ist gepierct, die Haare zu Dreadlocks verzwirbelt, ihre Kleidung ein psychedelisch bunter Aufschrei. Sie ist ganz und gar nicht der Typ Frau, der mich normalerweise anspricht. Aber ich kann meine Augen nicht von ihr lösen. Wie ohne mein Zutun bewegen sich meine Beine in Richtung Eingang. Mein Körper reagiert schneller als mein Verstand. Ich muss mit dieser Frau Kontakt aufnehmen!
„Darf ich mich zu Ihnen setzten?“, spreche ich sie an. Langsam hebt sie den Blick, die Augenbrauen unwillig zusammengezogen. Sie schaut mich an, lässt ihre Augen über die vielen leeren Tische im Raum gleiten.
„Nein.“ Mehr sagt sie nicht. Nur dieses eine, kleine Wort. Für sie ist die Angelegenheit erledigt, liest einfach weiter. Wie benommen stehe ich da, weiß nicht, was ich tun soll.
„Aber… aber“, stottere ich und spreche in meiner Verwirrung aus, was ich besser nur gedacht hätte:
„Ich habe mir doch gewünscht, Sie kennenzulernen!“
Die Frau schaute mich erneut an, legt den Kopf schief.
„Sind Sie ein bisschen dumm im Kopf? Sie haben es sich gewünscht? Sorry, Mister-ich-glaub-an-die-Fee, das Leben ist kein Ponyhof und selbst wenn, dann ist man oft genug das kleinste Pony, das den dicksten Reiter tragen muss. Ich bin definitiv nicht Ihr Pony.“
Sie blättert eine Seite in ihrem Buch um und scheint mich bereits vergessen zu haben. Ich wanke zu einem Stuhl, bestelle beim Kellner Kaffee. Meine Hände zittern. Was ist passiert? Was stimmt nicht? Ich verschütte die Milch, streue Zucker daneben, klirre viel zu laut mit dem Löffel an die Tasse. Ich denke nach. Kurz bevor ich die Frau sah, wünschte ich mir eine echte Herausforderung. Das ist es! Ich habe endlich den richtigen Wunsch geäußert. Ruhe überkommt mich. Das ist meine Chance auf ein normales Leben. Ich lächle und betrachte die Frau. Ich werde nicht aufgeben.
Schreiben ist leicht.
Man muss nur die falschen Wörter weglassen.
Mark Twain
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